Tollense und die „Milchtrinker“
Das älteste Schlachtfeld Europas erzählt auch eine Geschichte über die „Milchtrinker“, Menschen die Laktose auch im Erwachsenenalter vertragen, benötigen ein ganz bestimmtes Gen. Die Veränderung, die Genetiker unter dem Namen 13,910*T kennen, ist dazu nötig, sie verhindert, dass der Körper die Laktaseproduktion in jungen Jahren einstellt. Die Mutation sorgte dafür, dass der Mensch den Milchzucker lebenslang verdauen kann. Die Frage ist, seit wann kann der Mensch in Europa Milch trinken ohne Bauchweh zu bekommen? Tollense, das älteste Schlachtfeld Europas, liefert Antworten.
Das älteste Schlachtfeld Europas
Vor etwa 3250 Jahren lieferten sich an der Tollense in Mecklenburg Tausende Krieger die erste archäologisch belegte Schlacht der Geschichte. Die Tollense, das ist ein etwa 63 km langer, Fluss zwischen dem Tollensesee im Nordosten des Müritz-Nationalparks in Mecklenburg-Vorpommern und Demmin, wo sie in die Peene mündet. Hier haben Archäologen seit 2007 bereits mehrere Tausend menschliche Knochen geborgen. Doch was ursprünglich als Friedhof gedeutet wurde, entpuppt sich als Teil eines Schlachtfeldes, auf dem vor etwa 3250 Jahren zwei Heere gegeneinander gekämpft haben.
Offenbar war das Motiv der Auseinandersetzung der Fernhandel. Eine Holzkonstruktion in der Tollense wird als Brücke gedeutet, über die ein uralter Handelsweg verlief, auf dem Luxusgüter und strategische Waren wie Zinn gehandelt wurden, das für die Bronzeerzeugung benötigt wurde.
Die Knochen der gefallenen Krieger von Tollense erzählen eine Geschichte
Ihre Knochen liefern heutigen Archäologen wertvolle Informationen. Ein internationales Forschungsteam um den Populationsgenetiker Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat untersucht, wie verbreitet die Genvariante, der „Milchtrinker“ in der Bronzezeit vor etwa 3200 Jahren war. Burger und seine Kollegen untersuchten das Erbgut von 14 gefallenen Personen, zwei davon weiblich. In weiten Teilen ähnelte das Genom der untersuchten Individuen dem der Menschen, die heute in Norddeutschland leben. Eine Ausnahme bildete genau die Genvariante, die für die Laktase-Produktion zuständig ist. Nur einer der 14 untersuchten Menschen aus der Bronzezeit trug das dafür nötige Gen. Alle anderen waren offenbar laktoseintolerant.
„Von der heutigen Bevölkerung desselben Gebiets verfügen 90 Prozent über dieses Merkmal, die sogenannte Laktasepersistenz“, sagt Burger. „Dieser Unterschied ist enorm, wenn man bedenkt, dass nicht viel mehr als 120 Menschengenerationen dazwischenliegen.“
Joachim Burger Geringe Prävalenz der Laktasepersistenz in der Bronzezeit Europa zeigt anhaltende starke Auswahl in den letzten 3.000 Jahren
Die Sache mit der Milch
Wie der Begriff vermuten lässt, ist Milch für den Nachwuchs von Säugetieren die erste Nahrung. Allerdings verlieren die „Säuglinge“, wenn sie erwachsen werden, die Fähigkeit, den in der Milch enthaltenen Zucker Laktose zu verdauen. Als aber Menschen in der Jungsteinzeit vor rund 7500 Jahren begannen, Vieh zu halten und zu nutzen, wurde sie zu „Milchtrinkern“. Dafür benötigen sie das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet. Damit der Körper dieses Enzym noch im Erwachsenenalter produziert, ist eine bestimmte Genvariante erforderlich. Ein internationales Forschungsteam um den Populationsgenetiker Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat nun untersucht, wie verbreitet diese Variante in der Bronzezeit vor etwa 3200 Jahren war und wie schnell sich diese Genvariante durchsetzen konnte.
Flotte Evolution
Wenn man bedenkt, dass zur Zeit der Schlacht von Tollense nur ganz wenige Individuen in der Lage waren Laktose zu verdauen, im Mittelalter aber bereits 60% „Milchtrinker“ waren und heute etwa 90% der Bevölkerung Laktose gut vertragen, dann war das eine flotte Entwicklung. Ein Möglicher Grund dafür waren die Vorteile der Nahrungsquelle Milch. Sie lieferte viele Kalorien und Nährstoffe, und war, im Vergleich zum damals verfügbaren Trinkwasser, relativ wenig mit Krankheitserregern kontaminiert. Zusätzlich konnten Menschen in nördlichen Breiten mit geringer Sonneneinstrahlung besonders davon profitieren, höhere Mengen Vitamin D und Calcium mit der Nahrung aufzunehmen. Burger sagt dazu:
Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich die Fähigkeit, Milch zu verdauen, erst mit zunehmender Bevölkerungsdichte zu einem besonders starken Selektionsfaktor entwickelt hat. In Zeiten von Nahrungsmangel oder verseuchtem Trinkwasser könnte Milch als energiereiche, unkontaminierte Flüssigkeit höhere Überlebenschancen geboten haben, so Burger: „Gerade in der frühen Kindheit, also in den Jahren nach dem Abstillen, mag das in prähistorischen Populationen immer wieder entscheidend gewesen sein.
Joachim Burger: Geringe Prävalenz der Laktasepersistenz in der Bronzezeit Europa zeigt anhaltende starke Auswahl in den letzten 3.000 Jahren
Was ist daran so spannend?
Wann genau die erste Milch getrunken wurde, ohne Bauchweh zu bekommen, weiß man nicht genau. Der Genetiker Mark Thomas vom University College in London behauptet, dass vor etwa 7900 bis 7450 Jahren Menschen im heutigen Rumänien und Ungarn Milchprodukte zu sich nahmen ohne nennenswerte Probleme zu haben . Andere Wissenschaftler hatten angenommen, dass das „Milchtrinken“ auf einen Zustrom von Menschen aus der Pontisch-Kaspischen Steppe, also Migranten aus der Schwarzmeerregion, zurückgeführt werden könne, der vor etwa 5.000 Jahren begann. Die Knochen von Tollense erzählen eine andere Geschichte. Die Anpassung an das „Milchtrinken“, fand anscheinend erst in den letzten 3000 Jahren statt.
Warum ist das wichtig?
Man kann davon ausgehen, dass der frühe Sesshafte noch kein sehr erfahrener Landwirt war. Der Lernprozess fand nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ statt. Ein Irrtum konnte allerdings tödlich für eine ganze Population sein. Wenn der Ertrag nicht ausreichend war, verhungerten die Menschen. Eine zusätzliche Nahrungsquelle, wie Milch zum Beispiel, konnte den Unterschied zwischen Tod und Leben ausmachen. Thomas sagt dazu:
An der Grenze zum Hungertod hatten jene Menschen der Jungsteinzeit einen entscheidenden Vorteil, die Milch verdauen konnten“. Denn zu Beginn der Landwirtschaft kämpften die Jungsteinzeitler mit Ernteausfällen, da sie sich mit dem Anbau von Nutzpflanzen kaum auskannten. Milch war da eine kalorien- und eiweißreiche Alternative für diejenigen, die sie problemlos verwerten konnten. Noch dazu war sie wohl weniger keimbelastet als Trinkwasservorräte.
Mark Thomas, University College London
Die Fähigkeit Milch zu trinken, dürfte daher eine wesentliche Voraussetzung gewesen sein, damit sich die Landwirtschaft in Europa entwickeln konnte, Jene Menschen, die Milch vertrugen, hatten die besseren Chancen zu überleben. Das erklärt die Selektion auf „Milchtrinker“. Joachim Burger sagt uns nun, dass diese Anpassung in relativ kurzer Zeit stattgefunden hat, die Knochen von Tollense haben ihm das verraten.
Quelle: https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(20)31187-8
Bild: Pexels/Pixabay